Freitag, 19. Oktober 2012

Hoffnungsdrachen?

Liebe Blogleser,

gerade wird mir bewusst, dass die letzte Ferienwoche für dieses Jahr beinahe vorüber ist und ich mich eigentlich nicht beklagen kann, dass ich sie nicht anständig genutzt hätte. Solange heute wieder die freitagsüblichen Einkäufe und der nasse Lappen für den ein oder anderen Teil der Wohnung anstehen, kann ich mir schon einmal Gedanken machen, wie lange es am Sonntag wohl dauern wird, die Räume an der Universität zu finden. 12.30 Uhr beginnt für mich meine erste Lehrveranstaltung auf Neuhebräisch, was mich im Moment ehrlich gesagt noch etwas beklemmt. Vier Stunden die Woche wird mich der Talmud beschäftigen, zehn Stunden weiterhin der Sprachkurs und acht Stunden Lehrveranstaltungen zum Alten Testament - ganz grob gesagt. Ich werde ja noch genügend Zeit haben, euch bis Januar etwas über die einzelnen "Fächer" zu berichten.

Gestern machten wir uns auf, einen Tag lang im Westjordanland, genauer gesagt in Beit Jalla, zu verbringen. Beit Jalla ist von den Stadträndern Jerusalems wahrscheinlich nicht einmal 10 km entfernt und gleichzeitig findet man sich auf der anderen Seite des Checkpoints in einem anderen Staat wieder.
1949, nachdem der gerade ein Jahr alte Staat Israel seinen ersten Krieg gegen die arabischen Nachbarländer gewonnen hatte, wurde von den Vereinten Nationen eine grüne Linie gezogen, um den Waffenstillstand zwischen Israelis und Palästinensern zu wahren. Auch heute ist die grüne Linie die Basis für die Friedensverhandlungen im Nahostkonflikt. Nach weiteren Scharmützeln war die nächste Station im Konflikt der Sechs-Tage-Krieg 1967, in welchem Israel die Gebiete jenseits der grünen Linie besetzte. Abgesehen vom Abzug aus dem Gaza-Streifen vor ca. zehn Jahren, hält diese Situation bis heute noch an. Aus israelischer Sicht bieten die zahllosen Checkpoints, die teilweise an Flughafenterminals erinnern, und die Mauer, die seit 10 Jahren gebaut wird, Sicherheit für die eigenen Bürger. Aus palästinensischer Sicht ist es eine Einschränkung in der persönlichen Freiheit, die Menschen verzweifeln lässt.
Der Schulhof mit Markierungen, damit beim Fahnenappell alle Klassen
auch in einer Linie stehen.
 Morgens hatten wir die Möglichkeit der Talitha-Kumi-Schule in Beit Jalla einen Besuch abzustatten. Die Schule ist eine anerkannte deutsche Schule, die vor 162 Jahren vom Berliner Missionswerk gegründet wurde. Johannes, ein deutscher Lehrer, dessen Frau im letzten Jahrgang von Studium in Israel war, führte uns durch die Schule und arrangierte ein Treffen mit seiner Klasse, die auf dem Weg zum deutschen internationalen (heißt wirklich so) Abitur ist. Da die Schüler Unterricht in und auf Deutsch erhalten, konnten wir uns mit ihnen auf Deutsch über ihre Erfahrungen an der Schule, ihre Zukunftspläne und ihre Freizeitgestaltung unterhalten. Danach wunderte uns nicht mehr, dass die Schule auch in internationalen Kreisen ein hohes Ansehen genießt und außer dem aktuellen bisher jeder Bundespräsident während seiner Amtszeit zu Besuch war.




Mittags unternahmen wir eine kleine Wanderung um eine gerade entstehende israelische Siedlung im Westjordanland. Seit mehreren Jahren entstehen immer wieder kleine israelische Inseln jenseits der grünen Linie, was das Verhältnis zwischen den beiden Konfliktparteien nicht wirklich verbessert. Gleichzeitig darf man sich die Siedlungen auch nicht nur als eine kleine Ansammlung von Häusern vorstellen, denn teilweise gibt es heute schon Siedlungen in Städtegröße.
Die Häuser auf dem Bild nebenan sind bereits fertig gestellt, warten aber noch auf ihre ersten Bewohner. Auf der anderen Seite des Hügels wird momentan eine Straße gebaut, die die Siedler mit Jerusalem verbinden soll, damit sie nicht die Straßen des Westjordanlandes benutzen müssen.

Man darf gespannt sein, wie sich die Zukunft der beiden Länder, denn eine Zwei-Staaten-Lösung ist auch die politische Linie Israels, gestaltet und wie viel Wasser bis dahin noch den Jordan hinunter fließt...

Herzliche Grüße aus dem endenden Lotterleben,
euer
Martin


P.S.: "Hoffnungsdrachen" heißt ein Lied von Christoph Zehendner über Kabul, was mir aber hier immer wieder in den Sinn kommt.


Donnerstag, 11. Oktober 2012

Zwischen Orangen und dem Frühlingshügel



Hallo liebe Blogleser,

nach einer sturmfreien Woche in Jerusalem (mein Mitbewohner kehrt heute wieder zurück) ist es mal wieder Zeit für die aktuellsten Nachrichten aus meinem Ferien-Dasein. Gestern Abend, als ich wieder auf dem Weg zurück von Tel Aviv nach Jerusalem war, fiel mir auf, dass es das dritte Mal innerhalb einer Woche war. Damit ihr seht, dass man ein und dieselbe Stadt drei Mal innerhalb einer Woche besuchen kann und irgendwie doch immer anders wahr nimmt, hier meine drei Tel Aviven (wie Diva - Diven :-)):

Ein Beispiel für ein Haus der "Weißen Stadt": In diesem
Gebäude wurde am 14. Mai 1948 von David Ben Gurion
der Staat Israel ausgerufen. Momentan wird dort (zurecht)
renoviert.
Numero 1 - Tel Aviv, die Urlaubsstadt: Donnerstag letzte Woche stand mein erster Ausbruch aus Jerusalem bevor. Weil so ein Unternehmen fachkundig angeleitet werden muss und bei Ersttätern immer wieder nachgeholfen werden muss, habe ich mir mit Stefan einen ausgewiesenen Ausbruchs-Experten ins Boot geholt. Stefan war Mitstiftler in Tübingen, ehemaliger Studium-in-Israeler und macht jetzt nach seinem Examen ein Praktikum in einem Jerusalemer Archiv. Von Norden nach Süden durchquerten wir die Stadt entlang des Mittelmeers, wo den keuschen Jerusalemer so mancher blanke Fleck Haut schockierte. Weite Strände hinter der Skyline und strahlender Sonnenschein haben mich spätestens in den Ferienmodus versetzt. Am südlichsten Punkt unseres Marsches legten wir eine Mittagspause in einem Restaurant ein, in dem mich besonders eine sehr leckere, koschere Pizza anlachte. Danach ging es durch die bekannte "Weiße Stadt" zurück Richtung Norden. Die "Weiße Stadt", die meiner Meinung nach eher grau ist, ist von der UNESCO 2003 zum Weltkulturerbe erklärt worden und stellt die größte zusammenhängende Siedlung im Bauhausstil dar. Zitat aus dem Reiseführer (an dieser Stelle nochmal einen herzlichen Dank an Uwe und Antje): "Zum 100-jährigen Geburtstag von Tel Aviv wurden viele Häuser aus dieser Zeit renoviert, aber für einen großen Teil fehlt leider immer noch das Geld, sodass sich heute die Häuser in sehr unterschiedlichem Zustand präsentieren." Wie schön man das doch umschreiben kann...

Blick auf die Skyline mit Moschee. Auch im säkularen Tel Aviv gibt es
eine Vielfalt der Religionen.
Numero 2 - Tel Aviv, die "historische" Stadt: Vergangenen Dienstag durfte ich bei einer Exkursion des Theologischen Studienjahrs der Dormitio nach Tel Aviv und Jaffo zu Gast sein und mit einer ganz anderen Brille die Stadt kennen lernen, die mir zuvor zwei große Blasen und eine offene Ferse beschert hat. Man will ja nicht nachtragend sein und deshalb machten wir uns zusammen mit Tamar Avraham auf die Suche  nach den Anfängen des jüdischen Tel Avivs und des arabischen Jaffos (arab. Jaffa).  Auf dieser historisch-politischen Exkursion wurde uns gezeigt, wie die Zeit vor und um die Staatsgründung Israels 1948 an konkreten Orten ablief und wie es dabei auch der arabischen Bevölkerung erging. Jaffa war früher für seine Orangenplantagen bekannt, die sich in der Umgebung befanden (deshalb heißen die Orangenkekse ja auch "Jaffa Cake"). In der Zeit unter muslimischer Herrschaft brachte es die Stadt nicht zuletzt durch den wichtigen Hafen zu einem beträchtlichen Reichtum. Ende des 19. Jahrhunderts besiegelte gerade dieser Hafen einen Umbruch in der Geschichte Jaffas. Durch verschiedene Pogrome in Europa und den Zionismus kamen immer mehr jüdische Einwanderer über den Hafen in die Stadt. Manche dieser Einwanderer gründeten nur wenige Kilometer weiter nördlich dann das heutige Tel Aviv, was bald in direkter Konkurrenz zum beschaulichen Jaffa stand. Eine schwierige Geschichte zweier benachbarter Städte begann, was darin endete, dass das Ganze heute offiziell Tel Aviv-Jaffo heißt, aber der Junior den Senior längst geschluckt hat. Heute ist Jaffo besonders für seine Kunst bekannt. In einem Teil der Stadt reiht sich ein Kunstladen an den anderen und ist bekannt für seine originellen Straßenschilder.
Der schwebende Baum. Ja, das ist
auch Kunst.
Kunst im "Migdal Schalom": Der Teil eines riesigen modernen Mosaiks
lädt zum Suchen und Grinsen ein. Wer findet den Spaß?
Numero 3 - Tel Aviv, die Durchgangsstadt: Der kürzeste Aufentahalt in Tel Aviv war gestern, als ich dort auf dem Weg zu einer Vortragsveranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Herzliya (ca. 20 km nördlich von Tel Aviv) umsteigen musste und nicht nur ein bisschen ins Schwitzen kam. Das lag weniger an dem feucht-warmen Klima der Stadt, sondern viel mehr daran, dass die Bussteige sich nicht dort befinden wollten, wo ich sie vermutete. Stattdessen gaukelte mir der Bahnhof vor, der Zugang zu den anderen Bussteigen zu sein und schwupps war ich im Besitz eines Bahntickets nach Herzliya. Dummenglück: Das Bahnticket war im Vergleich zum Busticket um sagenhafte 1,40 Schekel (ca. 28 Cent :-)) günstiger und ich war 10 min schneller in Herzliya. Weil die Israelis aber die Gewohnheit haben, die Bahnhöfe eher außerhalb der Städte zu haben, durfte ich auch 40 min länger zu Fuß gehen. Episoden, die das Leben schreibt...

So viel zu Tel Aviv. Es gäbe noch so viel mehr zu erzählen, aber es kommen vielleicht wieder sieben dürre Jahre, in denen ich noch über manche Story dankbar bin.

Nächtliche Grüße,
euer
Martin


Freitag, 5. Oktober 2012

Verschlungen im schwarzen Loch der Vergangenheit

Liebe Blogleser,

obwohl die Überschrift es vermuten lässt, hat Studium in Israel e.V. keinen Arbeitskreisbeschluss gefasst, dass ab sofort alle Studierende einen Astronomiekurs belegen müssen - wobei das auf Hebräisch bestimmt auch einmal amüsant wäre. Naja, man muss ja nicht alles haben...
Vergangenen Samstag veranstaltete das Deutsche Evangelische Institut für Altertumswissenschaften des Heiligen Landes (DEIAHL) in Kooperation mit der Erlöserkirchengemeinde eine Gemeindefahrt nach Megiddo und Caesarea maritima. Der humorvolle und hochkompetente Leiter der Exkursion war Prof. Vieweger, der gleichzeitig auch die Leitung des DEIAHL inne hat.

Als erstes möchte ich euch nach Megiddo mit hineinnehmen und euch ein paar Dinge zeigen:
Im Tor ein Blick auf zwei Kammern.
 Herzlich Willkommen in meiner bescheidenen Stadt. Leider haben die Jahrhunderte von ihr nicht mehr viel von ihr übrig gelassen, aber trotzdem ist sie noch ein wahres Schmuckstück. 
Meine Gäste heiße ich, der Stadtkönig, in diesem Tor willkommen. Ganz klassisch, wie viele andere vor 3000 Jahren, hat es sechs Kammern. Dort vertrieben sich nicht nur die Wachen ihre Zeit mit Spielen wie "Ich sehe was, was du nicht siehst  (und das ist staubig grau)", sondern hier fand auch die Rechtssprechung statt. Wenn zwei Personen Probleme miteinander hatten, versammelten sie sich im Tor, um einen Richter entscheiden zu lassen. 
Wenn ihr jetzt denkt, dass das alles von meinem Tor ist, dann liegt ihr falsch. Oben auf diesem Steinfundament gab es noch weitere Stockwerke aus Holz, was natürlich auch mehr Eindruck bei meinen Besuchern und Feinden schinden konnte. In diesen Holzzimmern arbeiteten meine Generäle und andere Beamten. Ob das so ganz sicher war, kann ich jetzt aber auch nicht mehr sagen. Ist ja schließlich auch schon eine Weile her.
Übrigens: Dieses Tor ist nur ein Teil einer imposanten Toranlage, die noch größer war. Okay, genug angegeben mit dem Tor - lasst uns einen Blick ins Innere der Stadt wagen.

 Ich sagte doch: es blieb nicht viel übrig. Leider haben Möchtegern-Archäologen aus einem Land, das mit U anfängt und mit A aufhört (und es ist nicht Uganda), Anfang des 20. Jahrhunderts eine schicke Kerbe in den ganzen Hügel eingegraben, sodass noch weniger übrig ist als vorher. Immerhin haben sie die Palmen von damals stehen lassen...
Der erste übrigens, der laut Prof. Vieweger richtig die Stadt ausgegraben hat, war der Schwabe Gottlieb Schumacher, seines Zeichens eigentlich Bauingenieur und Architekt: Wir können alles - auch ohne es gelernt zu haben - außer hochdeutsch.

Die Wohngebäude des niedrigen Pöbels überspringen wir einmal und kommen stattdessen noch zum Tempelbezirk. Welcher Gott hier angebetet wurde, weiß zwar niemand so richtig, aber die ziemlich runde Ansammlung von Steinen war immerhin ein sehr großer Altar für jene Gottheit. Darum herum stehen die Tempelmauern aus verschiedenen Jahrhunderten. Der Reichtum der Stadt, der von Handelseinnahmen und der umliegenden Jesreel-Ebene kam, zeigte sich an den Tempelbauten in Form von (sonst eher seltenen) Säulen oder Erweiterungsbauten.

 Zum Schluss mein persönliches Highlight von Megiddo: Die scheinbaren Ställe des Salomo, oder: Wenn man etwas finden will, findet man es auch (vorläufig). Bei der Erkundung Megiddos fielen den Archäologen Tröge ins Auge und weil sie in der Bibel bewandert waren, schlossen sie unmittelbar darauf, dass dort die Pferdeställe Salomos gewesen sein müssen, von denen in den Königebüchern berichtet wird. Nun zogen sich diese Tröge aber durch das ganze Gebäude und die Grundmauern lassen auch keinen anderen Eingang erwarten. Wie hätten die armen Tiere denn in ihren Stall kommen sollen? Prof. Vieweger vermutete scherzhaft, dass sie jedes Mal am Dach böse den Kopf angeschlagen haben müssen. Gleichzeitig wurde dort nicht einmal der Hauch eines Pferdeäpfelchens gefunden, was mit heutigen Methoden recht gut nachweisbar ist. War es also vielleicht doch eher ein Vorratsgebäude? Dass die Pferde trotzdem eingezogen sind, sieht man ja...

So, genug geschwärmt von diesem großartigen Ort! Ich hoffe, ich konnte euch ein bisschen mit hineinnehmen in die alte Zeit. Es gäbe noch so viel mehr zu erzählen, aber das Interessanteste ist gesagt. Über Caesarea kann ich auch ein anderes Mal noch berichten.

Bis dahin ein schönes Wochenende und herzliche Grüße aus dem zappendusteren Jerusalem,
euer
Martin

Einblick in unsere schöne Jaffostraße

Mittwoch, 3. Oktober 2012

Wenn die Welt still steht...

Liebe Blogleser,

heute möchte ich euch in eine Welt entführen, die ohne Fotos auskommen muss. Eine Welt, die außerhalb Israels kaum noch wahrnehmbar ist; eine Welt, die dem unermesslich schnellen Strom unserer Zeit für einen Tag die Stirn bietet.

Jom Kippur

Der Jom Kippur (auf Deutsch: Versöhnungstag) hat seine Wurzeln im Alten Testament in 3. Mose 16 und ist auch im heutigen Israel noch der höchste Feiertag des Jahres. Der Tag heißt deshalb Versöhnungstag, weil er die Menschen mit Gott versöhnen soll. All die Verfehlungen gegenüber Gott, die sie im vergangenen Jahr begangen haben, sollen an diesem Tag ins Reine gebracht werden. Man könnte sagen, dass mit dem Neujahrsfest auch eine Bußzeit beginnt, die wir hier sehr intensiv erleben konnten.
In der Nacht vor Jom Kippur trafen wir uns mit Ophir, um mit ihm sogenannte "Slichot-Gebete" zu besuchen. Als wir morgens um halb vier die erste Synagoge betraten, waren die Männer und Frauen schon intensiv im Gebet und hielten sich mit Schichten an der Kaffee-Maschine wach. Die Vorstellung, dass im Himmel an Rosch haschana drei Bücher aufgeschlagen werden - ein Buch des Lebens, ein Buch des Todes und ein Buch für alle dazwischen (worin sich die meisten Namen befinden) - bewirkt, dass die Menschen um Gottes Erbarmen bitten und ihn daran erinnern, dass er sich auch schon ihren Vätern (also Abraham, Isaak und Jakob) und Müttern gnädig gezeigt hat. 
Nach den Besuchen in den Synagogen zeigte uns Ophir noch den Brauch der Kaporot, der wahrscheinlich das Abstruseste war, was ich bisher gesehen habe. Zur Idee des Versöhnungstags aus der Bibel gehört, dass die Sünden des Volkes auf einen Bock (den Sündenbock) übertragen werden, der dann in die Wüste gejagt wird. In Europa entwickelte sich über die Jahrhunderte ein anderer Brauch, der mit Hühnern zu tun hat. Man kauft sich ein Huhn, das man an der Gurgel packt und während man ein Gebet spricht über dem Kopf kreisen lässt. Das Tier quiekt fürchterlich, aber nach der Tradition werden durch das Gebet und das Kreisen die Sünden auf die Henne übertragen. Anschließend gibt man das schuldbeladene Tier einem Mann, der ca. vier Hühnern pro Minute die Kehle aufschlitzt, damit sie ausbluten können. Das alles findet auf geschätzten 15 m² statt. In letzter Zeit wurde von verschiedenen Rabbinern Kritik an diesem Vorgang laut. Nicht wegen der Tiere - nein, wie könnte man auch - sondern weil die Hühner danach zu Hühnersuppe verarbeitet werden und den Armen zu essen gegeben wird. Dadurch nehmen die armen Menschen Sünde in ihre Mägen auf, die andere eigentlich abgeladen haben. Ihr seht: An sich ist das System schlüssig.
Mit dem Beginn des Jom Kippurs am Abend zuvor ändert sich das Leben in ganz Israel schlagartig. In die Bumm-Bumm-Restaurants unter unserer Wohnung kehrte gespenstische Stille ein, auf den Straßen gingen die Menschen spazieren, weil man an Jom Kippur nicht Auto fahren darf, die Orthodoxen zogen Crocs zu ihren feinen Anzügen an, weil man an Jom Kippur kein Leder tragen darf, die Radio- und Fernsehsender wurden ausgeschaltet - kurz: Die Welt steht still. Mit Anbruch der Dunkelheit beginnen die meisten Juden einen Tag lang Essen und Trinken zu fasten. Dementsprechend schaute man zur Mincha  am nächsten Tag, dem Nachmittagsgebet vor dem Abend, am Ende des Tages in ausgezehrte Gesichter und in sehnsüchtige Augen, die sich nach dem Stand umschauen, an dem nach dem Fastenbrechen Hörnchen und süße Fruchtsäfte verteilt werden. Dazwischen verbrachte man viel Zeit in der Synagoge, wo viel Zeit im Gebet verbracht wurde. Nach der Besinnlichkeit des Tages brach unter der Menschenmasse eine Erleichterung aus, die sicherlich auf das Fasten bezogen war, als auch darauf, dass nun alles Mögliche getan wurde, um um Gottes Erbarmen zu bitten und es ab sofort nicht mehr im eigenen Vermögen steht, etwas daran zu ändern.

Wie gesagt, gibt es von mir zu diesem Tag keine Bilder, weil es an vielen Stellen die religiösen Gefühle der Menschen hier verletzt hätte, wenn ich Fotos von ihnen geschossen hätte und mit verletzten religiösen Gefühlen kennt man sich ja gerade gut aus. Insgesamt war für mich der Tag so auch intensiver und stieß in mir so manchen Gedanken an.

In den nächsten zwei Tagen folgt dann ein bildreicher Blog zu unserer Exkursion von vergangenem Samstag, von der es auch viel Spannendes zu erzählen gibt.

Bis dahin und viele Grüße,
euer Martin