Mittwoch, 3. Oktober 2012

Wenn die Welt still steht...

Liebe Blogleser,

heute möchte ich euch in eine Welt entführen, die ohne Fotos auskommen muss. Eine Welt, die außerhalb Israels kaum noch wahrnehmbar ist; eine Welt, die dem unermesslich schnellen Strom unserer Zeit für einen Tag die Stirn bietet.

Jom Kippur

Der Jom Kippur (auf Deutsch: Versöhnungstag) hat seine Wurzeln im Alten Testament in 3. Mose 16 und ist auch im heutigen Israel noch der höchste Feiertag des Jahres. Der Tag heißt deshalb Versöhnungstag, weil er die Menschen mit Gott versöhnen soll. All die Verfehlungen gegenüber Gott, die sie im vergangenen Jahr begangen haben, sollen an diesem Tag ins Reine gebracht werden. Man könnte sagen, dass mit dem Neujahrsfest auch eine Bußzeit beginnt, die wir hier sehr intensiv erleben konnten.
In der Nacht vor Jom Kippur trafen wir uns mit Ophir, um mit ihm sogenannte "Slichot-Gebete" zu besuchen. Als wir morgens um halb vier die erste Synagoge betraten, waren die Männer und Frauen schon intensiv im Gebet und hielten sich mit Schichten an der Kaffee-Maschine wach. Die Vorstellung, dass im Himmel an Rosch haschana drei Bücher aufgeschlagen werden - ein Buch des Lebens, ein Buch des Todes und ein Buch für alle dazwischen (worin sich die meisten Namen befinden) - bewirkt, dass die Menschen um Gottes Erbarmen bitten und ihn daran erinnern, dass er sich auch schon ihren Vätern (also Abraham, Isaak und Jakob) und Müttern gnädig gezeigt hat. 
Nach den Besuchen in den Synagogen zeigte uns Ophir noch den Brauch der Kaporot, der wahrscheinlich das Abstruseste war, was ich bisher gesehen habe. Zur Idee des Versöhnungstags aus der Bibel gehört, dass die Sünden des Volkes auf einen Bock (den Sündenbock) übertragen werden, der dann in die Wüste gejagt wird. In Europa entwickelte sich über die Jahrhunderte ein anderer Brauch, der mit Hühnern zu tun hat. Man kauft sich ein Huhn, das man an der Gurgel packt und während man ein Gebet spricht über dem Kopf kreisen lässt. Das Tier quiekt fürchterlich, aber nach der Tradition werden durch das Gebet und das Kreisen die Sünden auf die Henne übertragen. Anschließend gibt man das schuldbeladene Tier einem Mann, der ca. vier Hühnern pro Minute die Kehle aufschlitzt, damit sie ausbluten können. Das alles findet auf geschätzten 15 m² statt. In letzter Zeit wurde von verschiedenen Rabbinern Kritik an diesem Vorgang laut. Nicht wegen der Tiere - nein, wie könnte man auch - sondern weil die Hühner danach zu Hühnersuppe verarbeitet werden und den Armen zu essen gegeben wird. Dadurch nehmen die armen Menschen Sünde in ihre Mägen auf, die andere eigentlich abgeladen haben. Ihr seht: An sich ist das System schlüssig.
Mit dem Beginn des Jom Kippurs am Abend zuvor ändert sich das Leben in ganz Israel schlagartig. In die Bumm-Bumm-Restaurants unter unserer Wohnung kehrte gespenstische Stille ein, auf den Straßen gingen die Menschen spazieren, weil man an Jom Kippur nicht Auto fahren darf, die Orthodoxen zogen Crocs zu ihren feinen Anzügen an, weil man an Jom Kippur kein Leder tragen darf, die Radio- und Fernsehsender wurden ausgeschaltet - kurz: Die Welt steht still. Mit Anbruch der Dunkelheit beginnen die meisten Juden einen Tag lang Essen und Trinken zu fasten. Dementsprechend schaute man zur Mincha  am nächsten Tag, dem Nachmittagsgebet vor dem Abend, am Ende des Tages in ausgezehrte Gesichter und in sehnsüchtige Augen, die sich nach dem Stand umschauen, an dem nach dem Fastenbrechen Hörnchen und süße Fruchtsäfte verteilt werden. Dazwischen verbrachte man viel Zeit in der Synagoge, wo viel Zeit im Gebet verbracht wurde. Nach der Besinnlichkeit des Tages brach unter der Menschenmasse eine Erleichterung aus, die sicherlich auf das Fasten bezogen war, als auch darauf, dass nun alles Mögliche getan wurde, um um Gottes Erbarmen zu bitten und es ab sofort nicht mehr im eigenen Vermögen steht, etwas daran zu ändern.

Wie gesagt, gibt es von mir zu diesem Tag keine Bilder, weil es an vielen Stellen die religiösen Gefühle der Menschen hier verletzt hätte, wenn ich Fotos von ihnen geschossen hätte und mit verletzten religiösen Gefühlen kennt man sich ja gerade gut aus. Insgesamt war für mich der Tag so auch intensiver und stieß in mir so manchen Gedanken an.

In den nächsten zwei Tagen folgt dann ein bildreicher Blog zu unserer Exkursion von vergangenem Samstag, von der es auch viel Spannendes zu erzählen gibt.

Bis dahin und viele Grüße,
euer Martin

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