Montag, 24. September 2012

Warm up und Training

Liebe Blogleser,

"Wenn Blätter von den Bäumen stürzen, die Tage täglich sich verkürzen,...", so wusste schon Heinz Erhardt, dass es bald Winter wird. So weit sind wir zwar hier noch nicht ganz, aber inzwischen kann es schon sein, dass man nachts auf einmal aufwacht und friert. Die Tage verkürzen sich seit gestern besonders, weil auch hier wieder auf die Winterzeit umgestellt wurde und wir dadurch jetzt wieder zeitgleich zu Deutschland sind. Da wird also so langsam ein Warm up nötig.

Andererseits hatte ich vergangene Woche auch schon ein tolles Warm up und Training auf die sprachkursfreie Zeit, die seit heute angebrochen ist. Das Ganze fühlt sich nicht nur wie eine Neugeburt an, sondern stellt einen vor bisher nicht dagewesene Fragen: "Was soll man heute Mittag machen?", "Welche Bücher habe ich zum Lesen da?", "Wo fange ich an, das Lernchaos zu beseitigen?" und noch viele mehr. 
Willkommen in Holland. Ach nein, das ist Windmühle von Mischkenot
Sheananim, dem ersten Stadtviertel außerhalb der Altstadt.
Trotzdem gab es vergangene Woche für mich während der "Neujahrsferien" einen Vorgeschmack, was diese Freiheit bedeutet. Der Verein "Studium in Israel e.V." bietet neben unserem Studienprogramm auch immer wieder Fortbildungen für Pfarrerinnen und Pfarrer aus verschiedenen Landeskirchen an - ja, das war jetzt der Werbeblock - und wir Studierende hatten vergangene Woche die Möglichkeit, zu einem Pastoralkolleg einiger Pfarrer aus Kurhessen-Waldeck zu stoßen. Thema waren die Texte rund um die Neujahrsliturgie und die Bindung Isaaks. Besonders die Lektüre von sogenannten Midraschim machte mir unheimlich Spaß. Midraschim sehen so aus, dass sie eine biblische Geschichte zur Grundlage haben und diese Geschichte durch eine "Erweiterung" deuten. Diese Texte sind meistens 1000 Jahre oder älter und wurden von Rabbinern in diesen Zeiten geschrieben. Nachmittags standen dann noch moderne Gedichte, die das Motiv der Bindung Isaaks bewusst beinhalten auf dem Programm. Besonders im Israel der 60er und 70er-Jahre sprach dieser Text viele Eltern und Familien an, die ihre Söhne und Töchter zum Militärdienst in unvorhersehbare Gefahren ziehen lassen mussten.
Am Samstag sollte dann eigentlich Lernen auf dem Plan stehen, aber Martin Vahrenhorst, unser Studienleiter hier, lud uns zu einer Exkursion des Pastoralkollegs in die Davidstadt ein. Dadurch, dass Martin uns fachkundig durch die Ausgrabungen führte, erkannte ich auch wesentlich mehr als beim letzten Mal - und kam, ganz nebenbei, auch ohne tiefgehende Verletzungen wieder heraus. Das ist doch auch schon etwas wert...
Alte Steine - Neue Steine. Die angebliche Mauer des Davidspalasts und
das Viertel Silwan gegenüber. 
Auf dem Bild nebenan kann man sehen, wie politisch brisant diese Ausgrabung ist. Das alte Jerusalem, vielleicht aus der Zeit Davids (laut manchen Israelis natürlich ganz sicher) und das gegenwärtige Jerusalem unter anderem mit arabischer Bevölkerung, die sich immer wieder wegen Ausgrabungen um ihre Häuser Sorgen machen müssen. Beispielsweise versuchte die israelische Regierung vor wenigen Jahren für einen "archäologischen Pfad" ca. 80 Häuser in Silwan ohne Weiteres abzureißen. Der bestimmte Einsatz von Hillary Clinton verhinderte es zunächst, aber dennoch stehen diese Pläne heute noch im Raum. So können 3000 Jahre alte Steine auch heute noch für gewaltige Brisanz sorgen.


Nicht weniger interessant: Dieser schöne Sitzplatz mit Blick auf Silwan, auf dem sicher so manches Geschäft getätigt wurde. In der Grube unterhalb dieser antiken Klobrille wurden unter anderem Gräten von Fischen gefunden, die nur im Roten Meer schwimmen. Was lernen wir vom antiken Jerusalemer dadurch? Er wollte erstens bequem sitzen und hatte zweitens keine Sorge, dass das Abwasserrohr verstopft ist, wenn er seine luxuriösen Hausabfälle die Toilette hinunterspülte.

Ihr seht, mein Warm up und mein Training für die freie Zeit hier ist schon bestens angelaufen. Heute Nacht steht um 3 Uhr ein Besuch in der Synagoge an, weil die Juden zwischen Neujahr und Jom Kippur am Mittwoch eine Art Bußzeit haben. Über Jom Kippur gibt es dann im nächsten Blogeintrag sicher viel zu berichten. Außerdem findet am nächsten Samstag eine Exkursion mit Prof. Vieweger in den Norden nach Megiddo und Caesarea maritima statt. Der Stoff für die nächsten Einträge wird garantiert nicht knapp.

Bis dahin mit einem Blick über das Hinnomtal auf die Altstadt grüßt euch lieb,
euer 
Martin



Montag, 17. September 2012

Endlich...

Liebe Blogleser,

endlich ist es soweit - nein, der VfB Stuttgart hat noch nicht seinen ersten Saisonsieg eingefahren. Das wäre allmählich einen extra Blogeintrag würdig. Vielmehr ist es soweit, dass mein Alltag hier unterbrochen wurde. Während bisher meist nur die Frage war, ob jetzt freitags der Sprachkurs stattfindet oder nicht, war die letzten Tage die Frage: Was sollen wir mit dieser überschüssigen Zeit machen? Seit vergangenem Freitag bis morgen haben wir von der Uni, sozusagen Neujahrsferien.

Blick aus der Propstei auf die Grabeskirche
Wie ihr vielleicht wisst, beginnt im Judentum das neue Jahr im Herbst. Weil die Juden vor mehreren Jahrhunderten es sich durch Zurückrechnen so erklärt haben, schreiben wir seit gestern Abend das Jahr 5773 nach Erschaffung der Welt. Im Gegensatz zu Europa, wo es am Neujahrsvorabend überall kracht und leuchtet, kehrt hier die Stille ein - sogar beim Bumm-Bumm-Restaurant unten. Rosch Haschana findet, wie viele jüdische Feste, im Kreise der Lieben statt und man trifft um 21 Uhr abends fast nur noch die Menschen, die ebenfalls von der Synagoge auf dem Weg nach Hause sind. Mich selbst verschlug es gestern Abend in die große Synagoge hier in Jerusalem, die im Männerteil brechend voll war. Geschätzte mindestens 500 Männer saßen da und lauschten dem Männerchor, der die Gottesdienstbesucher mit in das neue Jahr nahm.

Ein etwas anderer Blick auf die Dächer Jerusalems
Allgemein kam auch schon die ganze letzte Woche Abwechslung in den Alltag. Am Dienstag startete in der Propstei der Erlöserkirche ein kleiner Projektchor, um im November die Eröffnung der Ausgrabungen unter der Erlöserkirche zu untermalen. Klaus Schulten, ein Kirchenmusiker aus Deutschland, hat die Leitung in die Hand genommen. Am Donnerstagnachmittag wollten wir unsere zumindest zeitweilig wiedererlangte Freiheit vom Sprachkurs in einem kleinen Park verinnerlichen. Leider wurde ich schon von der Anreise zu diesem Park etwas traumatisiert: Wir fuhren mit der noch relativ neuen Straßenbahn in Jerusalem bis nach Nachlaot, einem Stadtteil der jüdischen Neustadt und irgendwann stieg sowohl ein älterer Herr, als auch eine junge Frau mit ihrem kleinen Jungen ein. Da ich relativ nahe bei der Tür saß, stand ich für den Herrn auf und stellte mich in den Gang. In der Zwischenzeit war der kleine Junge auf den freien Platz gegenüber gestürmt und kletterte darauf. Dort saß er mit großen Augen und schaute mich an. Irgendwann, als ich ihn auch anschaute, überwand er sich und fragte mich mit heller Stimme auf Hebräisch: "Willst du dich setzen?" Natürlich brüllte die ganze Straßenbahn vor Lachen. Abends erklärte dann unser Studienleiter Martin Vahrenhorst Göttinger Studierenden, die in Jerusalem auf Besuch waren und mehr aus erster Hand über unser Programm erfahren wollten, dass die Menschen oft erwachsener nach Deutschland zurückkehrten als sie kamen. Sorry, aber so erwachsen will ich dann doch nicht sein, dass schon Kinder für mich aufstehen!

Am Freitagabend machten wir uns einmal wieder auf in die Altstadt zum gemütlichen Beisammensein. Von größeren Protesten, wie in vielen anderen Teilen der arabischen Welt, war nichts zu spüren und im Moment deutet auch nicht wirklich etwas darauf hin. 

So viel für heute. Nächsten Sonntag schreiben wir die Abschlussklausur für unseren Sprachkurs und in der Woche danach beginnt unser Blogseminar (gemeint ist natürlich Blockseminar :-) ) mit Prof. Blum aus Tübingen. Auch wenn die Tage weiterhin voll sind, wird es langsam ruhiger.
Herzliche Grüße aus Jerusalem, macht's gut,
euer,
Martin


Samstag, 8. September 2012

Empfangt die Braut!

Liebe Blogleser,

während in Deutschland wahrscheinlich allmählich der Altweibersommer Einzug hält, sengt uns hier immer noch täglich die Sonne die noch vorhandenen Haare an. Wenn es dann Abend wird kühlt es sich inzwischen aber schon stärker ab, so dass zumindest dann ein Hauch von Herbst im Anflug ist. Wie eine Kommilitonin vergangenen Sonntag beim Empfang nach der Einsetzung des neuen evangelischen Propstes in Jerusalem sagte: "Hier klappt das irgendwie nicht so mit dem Wetter-Smalltalk. In Deutschland könnte man sagen: 'Ach, ist das toll, dass das Wetter heute so gut mitmacht.'" Hier ist es aber zumindest momentan überhaupt nichts Besonderes.

Hinter mir liegt eine volle Woche, die gestern von einem Synagogenbesuch zum Sabbatbeginn abgerundet wurde. Der Synagogenbesuch wurde von Ophir, unserem Lehrer, der uns in jüdischer Liturgie unterrichtet, organisiert und wir erhielten vorher noch eine halbstündige Einführung zu diesem Synagogengottesdienst. Den Gottesdienst, den wir mitfeiern durften, muss man sich anders vorstellen als einen christlichen Gottesdienst. Meistens ist der Synagogengottesdienst lauter als der Sonntagsgottesdienst. Laut wird es besonders da, wo es im christlichen Gottesdienst leise wird: beim Gebet. Der Gottesdienstleiter macht den Anfang und jeder einzelne betet in seinem Tempo laut oder manchmal auch leise weiter. Derjenige, der fertig ist, setzt sich einfach wieder hin. Stellt man sich das mal für das Vaterunser vor... Ein weiterer Unterschied ist das Singen. Ohne Begleitinstrument werden Stellen aus dem Alten Testament oder aus der reichen jüdischen Traditionsliteratur gesungen; dazu wird geklatscht, auf den Nachbarstuhl geklopft oder auch getanzt. Damit kommt richtig Stimmung auf, wobei die Fröhlichkeit auch dem Anlass angemessen ist: Der Synagogengottesdienst am Freitagabend ist der "Empfangsgottesdienst für den Sabbat". Sabbat wird im Judentum als eine Braut gedacht, die an diesem Abend zu der Gemeinde kommt. Ophir erzählte uns dazu eine Geschichte (Zitat von Ophirs Tochter: "Abba, did you tell them this stupid story?"). Die Frau Sabbat kommt zu Gott und beschwert sich, dass jeder Wochentag einen Partner hat. Der Sonntag habe den Montag, der Dienstag den Mittwoch und der Donnerstag den Freitag - nur sie sei alleine, sagte sie. Daraufhin sagte Gott: "Dein Bräutigam ist das Volk Israel." - und seitdem empfängt das Volk Israel seine Braut jeden Freitagabend.
Für mich war beeindruckend, wie lebendig und fröhlich es in diesem Gottesdienst zuging. Wir Deutsche wurden alle freundlich begrüßt und von einzelnen Sitznachbarn stellenweise auch in der etwas komplizierten Liturgie unterstützt.

Blick auf den Ölberg mit Himmelfahrtskirche. Eines von vielen Dingen, die
ich bald hier erkunden möchte.
Nun bin ich schon über einen Monat in diesem Land und in Jerusalem, was natürlich die Gelegenheit bietet, ein kleines Fazit für den Anfang zu ziehen: Ja, ich bin hier angekommen. In der jüdischen Neustadt kenne ich mich immer besser aus und auch in der Altstadt erschließt sich nach und nach so manches Gässchen mit seinen Läden für mich. Mein Hebräisch macht deutliche Fortschritte, was man immer wieder in kleinen Alltagssituationen merkt. Dass es noch nicht genug ist, was man auch immer wieder merkt, brauche ich eigentlich nicht sagen. Durch den Stress mit dem Sprachkurs habe ich bisher Jerusalem aber noch nicht so entdecken können, wie ich es gerne würde. Wenn am 23. September dann das Schlussexamen des Sprachkurses überstanden ist, wird genügend Zeit da sein, um auch das ein oder andere ausführlicher zu besichtigen.

So viel für heute. Das nächste Mal gibt es hoffentlich dann auch wieder neue Bilder. Ich wünsche euch morgen einen schönen Sonntag und eine gute Woche.
Herzliche Grüße aus Jerusalem,
euer
Martin

Montag, 3. September 2012

Briefe an den Vater...

Weil schon andere mit dieser Art Text berühmt wurden, versuche ich es auch einmal. Lesen dürfen es trotzdem alle und ihre Klischees bestätigen.


Lieber Papa,

ich weiß, ich habe jetzt schon seit über einer Woche nicht mehr in meinem Blog etwas von mir hören lassen. Das tut mir auch wirklich leid, aber ich musste an der Universität ein Projekt über fünf Seiten schreiben, in dem es um Namen ging. Unter anderem sollte man auch die Frage beantworten, wieso man selbst gerade diesen Namen hat und nicht irgendeinen anderen. Ich habe geschrieben, dass ihr mich "Martin" nanntet, weil ich schon als Kind so furchteinflößend war, dass jeder andere Name, der nicht von einem Kriegsgott kommt, unpassend gewesen wäre. Das war doch richtig oder? Nicht? Achso...

Wieso ich eigentlich schreibe ist eine Weisheit, die du mir von frühester Kindheit mitgegeben hast und an die ich mich in der Zeit nach dem letzten Blogeintrag mehrfach erinnert habe:

Schwäbisch isch d'Weltsproch

Milch ist lecker und gesund. Ein kleiner Beweis
für unsere noch nicht vollendete Kehrwoche.
Beispiel Nr.1: Nach einem Vortrag in der Dormitio gesellt sich der Referent zu der Gruppe, in der ich stand und fragt nach unseren Namen. Obwohl er "Martin" (natürlich schwäbisch ausgesprochen) erst als "Patrick" verstand, hat er "Kächele" gleich verstanden. Auf die Aussage hin, dass ich zuletzt in Tübingen studiert habe, meinte er: "Ja, da lehren die Professoren besonders gerne. Da lesen die Studenten nämlich noch ganze Bücher - weil sie nicht so viel Ablenkung haben." Die schöne schwäbische Provinz also, wo der Student noch seiner von der Natur bestimmten Aufgabe nachgeht. Bald entfernte sich der Referent von unserer Gruppe, aber stieß ca. eine halbe Stunde später wieder dazu - mit den Worten: "Sagen Sie mir bitte nochmal Ihren Namen, ich weiß nur noch, dass er auf 'ele' endet."
Beispiel Nr.2: Mein Mitbewohner Biff lernt auch nach und nach die wichtigen Vokabeln ("gschwend", "billig", "obacha"...), so dass ich hier bestimmt auch bald ohne hochdeutschen Akzent reden kann.
Auch sonst setzt sich langsam der schwäbische Charakter in der Jaffa Street durch. Auf dem Markt werden die Schnäppchen so lange gejagt, bis sie am günstigsten sind. Was heute nicht gegessen wird, gibt's morgen eben nochmal. Wenn es kein Wasser mehr hat, wird halt Tee gekocht und wenn es einen Empfang gibt, dann haut man dort natürlich ordentlich rein. Höchstens an der Kehrwoche müssen wir noch ein bisschen arbeiten...


Ein riesen Fescht in der Jaffo Street mit einem Ausschnitt der Gegensätze
der Stadt.
Ach ja und da ist dann noch so einiges, dieser Stadt, was es zum Beispiel bei anständigen Schwaben nicht geben würde. Das fängt schon mit dem Bierpreis in der Wirtschaft für umgerechnet 4 Euro an - das würde ja keiner kaufen. Etwas anderes war zum Beispiel das Straßenfest hier in der Jaffo Street. Während es beim Böhringer Dorfhock halt ein Festzelt mit Blasmusik gab, wurden hier ein DJ, eine Reggae-Band und eine Rock-Band eingeladen, die an drei verschiedenen Orten ihr bestes gaben. Auch die religiösen Juden ließen sich ein Tänzchen zu bestem Rock nicht nehmen. Ziemlich cool. Dafür gab es eben auf dem Dorfhock auch Maultaschen und Kartoffelsalat und hier? - Bier (Natürlich für zwischen 4 und 5 Euro). 

So. Jetzt ist mein selbstgesetztes Limit 20 Uhr erreicht und ich muss mich wieder den Hausaufgaben für morgen widmen. Aber des mach mer gschwend :-) 

Bis bald wieder, viele Grüße,
dein Martin

P.S.: Der Preis für die erste Postkarte nach Jerusalem geht nach Oberschwaben. Ich mache mich demnächst ans Schreiben!